Vom Tante-Emma-Laden zum Supermarkt (2024)

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Von: Nina Luttmer

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Der deutsche Lebensmittelhandel hat sich in den vergangenen 75 Jahren stark verändert. Die Einführung der Selbstbedienung war eine Revolution für die Branche – die allerdings lange Zeit auch sehr umstritten war.

Berlin – Die sauren Gurken lagerten im Fass, das Mehl im großen Sack, die Lakritze im Glas. Hinter der Ladentheke stand der Verkäufer, holte und verpackte auf Anfrage der Kundin die Lebensmittel und notierte und addierte die Kosten auf dem Block. So war das früher im deutschen Lebensmittelhandel; der „Tante-Emma-Laden“ war lange das dominierende Modell. Die Einführung der Selbstbedienung (SB) – und damit der Beginn der modernen Supermärkte – war eine Revolution für die Branche, und zwar eine lange Zeit sehr umstrittene.

„Bernhard Müller Augsburg“ – der erste Selbstbedienungsladen in der Bundesrepublik?

Umstritten ist auch, wann der erste Selbstbedienungsladen in der Bundesrepublik eröffnete. Oftmals wird der 4. Juni 1949 – vor genau 75 Jahren – als Stichtag genannt. Damals startete die Lebensmittelkette „Bernhard Müller Augsburg“ (BMA) einen SB-Laden in Augsburg, der zunächst allerdings nur Mitarbeitenden des Unternehmens zugänglich war. Ein Jahr später gründete BMA einen weiteren Laden für die Öffentlichkeit, auf den es einen regelrechten Ansturm gab. Manchmal wird auch der 30. August 1949 als Startschuss für SB-Lebensmittelläden genannt – damals eröffnete die Konsumgesellschaft „Produktion“, ein Vorläufer der späteren co op AG, in Hamburg die Pforten eines SB-Geschäfts. So oder so scheint das Jahr 1949 festzustehen.

Vom Tante-Emma-Laden zum Supermarkt (1)

Ebenfalls sicher ist, dass es bereits 1938 einen ersten Versuch in der Sache in Deutschland gab: Herbert Eklöh experimentierte in Osnabrück mit einem SB-Laden, wie es sie in den USA bereits seit 1912 gab, sogar mit richtigen Registrierkassen. Das Kundeninteresse war allerdings gering, und der Laden fiel im Krieg den Bomben zum Opfer. Eklöh aber spielte noch eine bedeutende Rolle in der Branche: Im Jahr 1957 eröffnete er in den Rheinhallen in Köln den damals größten SB-Supermarkt Europas auf 2000 Quadratmetern, mit sensationellen 200 Parkplätzen davor. Eklöh ist zudem einer der Gründerväter der Parfümeriekette Douglas.

Metallwaren aus Leipheim

Ein ebenfalls wenig bekannter Pionier der Branche war Rudolf Wanzl. In seiner Metallwarenfabrik in Leipheim bei Ulm produzierte er seit Ende der 1940er – zunächst in handwerklicher Einzelanfertigung – Einkaufswagen und Einkaufskörbe für die SB-Läden. Er war es etwa, der sich klappbare Henkel für die Einkaufskörbe ausdachte, um diese besser stapeln zu können. Noch heute ist die Firma Wanzl familiengeführt und Weltmarktführer für Einkaufswagen. Ein sogenannter Hidden Champion.

Die Einführung der Selbstbedienung wurde in der Branche in den Vierziger- und Fünfzigerjahren hitzig diskutiert. Manche fürchteten den Abbau vieler Arbeitsplätze, andere eine Amerikanisierung der deutschen Gesellschaft. Eine Studie des Handels aus dem Jahr 1952 mit dem Ergebnis, dass Geschäfte nach einer Umwandlung von Bedienung auf Selbstbedienung 93 Prozent mehr Umsatz machten, wurde unter Verschluss gehalten.

Ende 1950 gab es erst um die 20 SB-Läden in Deutschland, 1956 knapp 740, 1957 etwa 1380 – während es noch um die 200 000 Läden mit Bedienung gab. Der Umsatzanteil der SB-Läden lag bei nur 4,4 Prozent. Doch dann ließ sich die Veränderung nicht weiter aufhalten. 1959 gab es bereits knapp 9700 SB-Läden, die vier Milliarden DM Umsatz machten, 15,7 Prozent des gesamten Lebensmittelumsatzes. 1962 dann wurde bereits die Hälfte des gesamten Umsatzes in diesen modernen Supermärkten gemacht.

Revolution im Einzelhandel – Meilenstein der Discounter

1957 gründete der Handel das Institut für Selbstbedienung in Köln, das sich mit allen Facetten der Selbstbedienung beschäftigte. Denn der Wandel hatte ja viele Konsequenzen: Produkte mussten nun etwa industriell verpackt, Ware mit Schildern bepreist werden – wobei noch bis 1974 die Preisbindung für Markenartikel galt.

Ab 1961 kam dann die nächste Revolution: Die ersten Discounter eröffneten, 1962 der erste Aldi. „Das war ein Konzept, das Deutschland exportieren konnte. Der Discounter ist eine deutsche Erfindung“, sagt Stephan Rüschen, Handelsexperte und Professor an der DHBW Heilbronn. Ebenfalls ab Mitte der 1960er Jahre gingen die großen Verbrauchermärkte an den Start, in denen die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht nur Lebensmittel, sondern auch Kleidung, Elektroartikel, Haushaltswaren und Autoreifen kaufen konnten. Die Märkte lagen nicht mehr in den Innenstädten, sondern in der Peripherie und boten Tausende Parkplätze und oft auch Billigtankstellen.

Kriegbaum, Wertkauf, Huma, Allkauf, Famila, Meister, Real, Globus, Interspar sind einige verschwundene sowie noch existierende Namen solcher Marktketten. Das Konzept hat inzwischen ausgedient, die Kombination aus dem Verkauf von Lebensmitteln und vielen anderen Artikeln wurde zumeist aufgelöst.

Das Supermarktsterben – Marktkonzentration in Deutschland

Insgesamt hat es in den vergangenen Jahrzehnten eine starke Marktkonzentration gegeben. Viele Supermarktketten sind ganz verschwunden oder in anderen Namen aufgegangen. Erinnert sei an Namen wie extra, Spar, miniMal, Tengelmann, Real oder Plus. „Der deutsche Markt gehört inzwischen vor allem vier Unternehmen, die 76 Prozent Marktanteil haben“, sagt Rüschen. Das sind Aldi; Rewe – mit Penny; Edeka – mit Netto und die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland. Die Discounter haben über die Jahrzehnte immer mehr Marktanteile gewonnen. 2023 machten sie laut einer Statistik des Forschungsinstituts EHI 37,8 Prozent des Umsatzes der Branche.

„Die Supermarktketten haben lange Zeit den Fehler gemacht zu versuchen, die Discounter zu kopieren“, sagt Michael Gerling, Geschäftsführer des EHI. Inzwischen hätten sie aber die Umkehr geschafft. Sie hätten wieder mehr Theken, mehr Bedienung, mehr Ambiente – etwa indem sie Gastronomie in die Geschäfte integrierten. „Sie profilieren sich wieder mehr durch das, was der Discounter nicht kann: Sie holen sich etwa den Spargel oder das Fleisch vom Bauern nebenan, sie setzen auf Regionales“, sagt Gerling. Oder bauen gleich selbst an: Der Rewe in Wiesbaden-Erbenheim etwa hat eine eigene Fischzucht und einen Kräutergarten auf dem Dach.

Ein großer Vorteil sei dabei, dass Edeka und Rewe Partnermodelle hätten. Bei Edeka gebe es etwa 4000 selbstständige Kaufleute, bei Rewe ca. 1500. „Da stehen oft sehr innovative Unternehmerinnen und Unternehmer hinter. Sie können – anders als Filialleiter in einem Discounter – ihr Sortiment selbst bestimmen, sie können regional einkaufen, sie sind schnell und mutig. Das sind echte Innovationstreiber“, so Gerling.

Aufstiegschancen im Handel – sind die Klischees irreführend?

Preislich können die großen Supermarktketten inzwischen teilweise mit den Discountern mithalten: Seit Anfang der 1980er vertreiben sie ihre Eigenmarken wie Ja! von Rewe und Gut&Günstig von Edeka. „Wir sprechen hier auch von ‚Aldinativprodukten‘. Preislich sind die Eigenmarken auf dem Niveau von Aldi“, sagt Gerling. Überhaupt haben die Deutschen Glück. Denn im europäischen Vergleich kaufen sie eher günstig ein. „Deutschland gilt als billig. Kaufkraftbereinigt ist der Lebensmittelhandel etwa fünf bis zehn Prozent günstiger als in anderen EU-Staaten“, sagt Rüschen.

Und wo geht die Zukunft des Lebensmittelhandels hin? Wird es weitere gravierende Veränderungen geben? „Das Problem ist der Personalmangel. Der Handel muss damit klarkommen. Daher wird ja auch kein Markt mehr ohne SB-Kassen gebaut“, sagt Gerling. Das sei oft keine Maßnahme, um gezielt Personalkosten zu senken – sondern aus der Not heraus geboren.

Die Branche habe bei der Rekrutierung auch das Problem, eine schlechte Reputation zu haben. „Wenn in der Zeitung ein Artikel über den Niedriglohnsektor steht, dann wird der ja auch sehr gerne mit Menschen bebildert, die Supermarktregale einräumen. Dabei haben Supermärkte oft hoch qualifiziertes Personal, etwa hinter den Theken. Die verdienen auch richtig gut. Und die Karriere- und Aufstiegschancen, die man im Handel hat, sind vielen Menschen leider überhaupt nicht klar“, sagt Gerling.

Die Branche setzt auch aus diesem Grund in immer mehr Bereichen auf Künstliche Intelligenz – etwa in Form von elektronischen Preisschildern oder personalisierten Angeboten in Apps. Supermärkte ohne Personal, wie Teo von Tegut oder Pick&Go von Rewe, könnten ebenfalls Zukunftsmodelle sein.

Von manchen vertrauten Dingen müssen sich die Kundinnen und Kunden auch trennen. So hat Rewe im vergangenen Jahr die Handzettel und Werbung auf Papier eingestellt – das Unternehmen setzt nur noch auf digitale Werbung. „Andere Unternehmen werden das auch nach und nach so machen. Prospekte auf Papier haben wohl ausgedient“, glaubt Rüschen.

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